Die ganze Welt redet vom Klimawandel, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre steigt weiter ungebremst, bei den Luft- und Wassertemperaturen werden beinahe jährlich neue Rekorde verbucht, die Wetterextreme nehmen zu, die Gletscher nehmen ab, die Biodiversität schwindet in rasendem Tempo … und dennoch machen wir weiter, als gäbe es diese Fakten nicht.
Kraftfahrzeugbestand in Österreich ▪ 1970 gab es in Österreich 2,20 Millionen Kraftfahrzeuge, 1980 waren es 3,38 Millionen, 1990 dann 4,24 Millionen, im Jahr 2000 bereits 5,58 Millionen und 2015 schließlich 6,55 Millionen Kraftfahrzeuge [1]. Der Kraftfahrzeugbestand wurde in Österreich somit in 45 Jahren verdreifacht (297,4 %), während die Bevölkerung in der Zeit lediglich um 14,6 % wuchs [2].
Straßennetz in Österreich ▪ Österreich hat von seinem westlichsten Punkt bei Bangs (Gemeinde Feldkirch) in Vorarlberg und seinem östlichsten Punkt bei Deutsch Jahrndorf im Burgenland eine Länge von 577 km. In der Nord-Süd-Ausdehnung misst Österreich an seiner breitesten Stelle – zwischen nördlich Haugschlag (Waldviertel) und der Vellacher Kotschna (Steiner Alpen) – 296 km [3].
Dieser Maximalausdehnung Österreichs von 577 bzw. 296 km steht eine Gesamtlänge an öffentlichen Straßen von 124.510 km (Stand: 2011) gegenüber [4]. Zählt man die hinsichtlich der Lebensraumzerschneidungen ebenfalls problematischen Forststraßen hinzu, kommt man auf über 300.000 km Straßen in Österreich [5]: Das österreichische Straßennetz reicht somit 7,5 mal um den Äquator unserer Erde.
Jeder Quadratkilometer Boden wird in Österreich durchschnittlich von 3,6 km Straßen durchzogen [6]. Nimmt man als Berechnungsgrundlage den Dauersiedlungsraum [7] – also den Teil Österreichs, der besiedelt ist oder theoretisch besiedelt werden kann und somit für die verkehrstechnische Erschließung relevant ist –, dann wird jeder Quadratkilometer des österreichischen Dauersiedlungsraums von durchschnittlich 9,2 km Straßen zerteilt.
Lebensraumzerschneidung und Auswirkung auf die Biodiversität ▪ Bei der in Österreich bestehenden Straßeninfrastruktur und den hieraus entstehenden erheblichen Problemen für Klima, Biodiversität und Mensch ist jeder Meter zusätzliche Straße ein Meter zu viel. Die zahlreichen Proteste von Bürgerinitiativen und NGOs gegen den weiteren Ausbau des Straßennetzes sind in aller Regel berechtigt und dringend notwendig.
Das Umweltbundesamt hält fest: „Die Zerschneidung von Lebensräumen gilt heute als eine der Hauptursachen von Artenverlusten. Die Verdichtung von Verkehrswegen und die zunehmende Zersiedelung schaffen allerorts ökologische Barrieren. Gegenstrategien sind dringend erforderlich.“. Die Auswirkung von Straßen auf Populationen [8], die letztlich zu Artenverlusten führt, wird nachfolgend schematisch dargestellt:
Wird durch den Lebensraum einer Population (dunkelgrüne Fläche) eine Straße (rote Linie) gebaut, wird die Population in zwei kleinere Einzelpopulationen (hellgrüne Flächen) aufgeteilt. Sind die beiden Teilpopulationen jeweils groß genug, dann können beide überleben.
Erfolgt die Errichtung einer weiteren Straße, werden die beiden Teilpopulationen nochmals zerteilt. Die jeweils verbliebenen Populationen (orangene Flächen) sind nun zu klein, sie sterben aus.
Die Gründe dafür können abhängig von der Art sehr unterschiedlich sein: Sie reichen ...
Ursächlich für den Arten- bzw. Populationsverlust kann eine Einzelwirkung sein, oder auch die Summe der negativen Einflüsse, die von Straßen und deren Benützung auf die Populationen der Arten ausgehen.
Nur in wenigen Fällen – beispielsweise dann, wenn durch eine neue Straße Amphibien der Weg zu ihren Laichgewässern abgeschnitten wird – erfolgt das Aussterben eine Population unmittelbar nach dem Straßenbau.
Wie beispielsweise Dullinger et al. (2013) [9] oder Essl et al. (2015) [10] festgestellt haben, folgt der Artenschwund zumeist erst Jahre oder Jahrzehnte nach den Eingriffen in die Lebensräume.
Bewilligungsvoraussetzungen fehlen ▪ Ein öffentliches Interesse zur Errichtung von Straßen ist bei einem Ausbaugrad, wie er in Österreich besteht, keinesfalls gegeben. Vielmehr besteht ein starkes öffentliches Interesse an der Erhaltung der Biodiversität, wie dies auch in völkerrechtlichen Verträgen [11], in europäischen Rechtsnormen [12] und im nationalen Bundes- und Landesrecht [13] verankert ist.
Wie repräsentative Umfragen aus dem Jahr 2015 zeigen, haben 81 % der österreichischen Bevölkerung (EU-weit 84 %) die starken Gefahren, die von der „Veränderung oder Zersplitterung von Naturgebieten durch Verkehrs-, Wasser- und Energieinfrastrukturprojekte“ auf die Biodiversität ausgehen, erkannt [14].
97 % der österreichischen Bevölkerung (EU-weit ebenfalls 97 %) geben an, dass wir eine Verantwortung für die Natur haben, wobei für 92 % der Österreicherinnen und Österreicher (EU-weit 94 %) „die Zerstörung und der Verlust natürlicher Lebensräume“ das ernsteste Problem darstellt [14].
Bereits 1997 musste im zweiten Erwägungsgrund der Vogelschutzrichtlinie festgestellt werden: „Bei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist ein Rückgang der Bestände festzustellen, der in bestimmten Fällen sehr rasch vonstatten geht. Dieser Rückgang bildet eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt, da durch diese Entwicklung insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht wird.“.
Um dieser Gefährdung entgegen zu steuern, sind in der Vogelschutzrichtlinie Ziele definiert. Sie betreffen die Erhaltung sämtlicher wildlebender Vogelarten, die in der EU heimisch sind, und gelten für die Vögel als solche, ihre Eier, Nester und Lebensräume [15].
Die Mitgliedstaaten haben dafür alle Maßnahmen zu treffen, um die Vogelbestände auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der unter anderem den ökologischen Erfordernissen entspricht [16], wobei für alle Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengröße der Lebensräume zu erhalten oder wiederherzustellen ist [17].
Zur Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensstätten und Lebensräume gehören neben der Einrichtung von Schutzgebieten die Pflege und ökologisch richtige Gestaltung der Lebensräume in und außerhalb von Schutzgebieten sowie die Wiederherstellung und Neuschaffung von Lebensstätten [18].
Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (kurz „FFH-Richtlinie“) ist, wie die Vogelschutzrichtlinie, eines der zentralen Rechtsinstrumente im europäischen Naturschutz und in allen EU-Mitgliedsstaaten anzuwenden. „Wie in Artikel 130r des Vertrages festgestellt wird, sind Erhaltung, Schutz und Verbesserung der Qualität der Umwelt wesentliches Ziel der Gemeinschaft und von allgemeinem Interesse“. Es wird im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie gesondert betont, dass unter „Erhaltung, Schutz und Verbesserung der Qualität der Umwelt“ jedenfalls der Schutz der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zählt.
Bereits in der Stammfassung der FFH-Richtlinie aus dem Jahr 1992 wurde festgestellt: „Der Zustand der natürlichen Lebensräume im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten verschlechtert sich unaufhörlich. Die verschiedenen Arten wildlebender Tiere und Pflanzen sind in zunehmender Zahl ernstlich bedroht.“ [19].
Aus dieser Erkenntnis heraus wurde das zentrale Ziel der Richtlinie definiert, nämlich dass die Rechtsnorm zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen beizutragen hat, wobei die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen darauf abzuzielen haben, einen günstigen Erhaltungszustand der in der Richtlinie genannten Lebensräume und Arten zu bewahren oder wiederherzustellen [20].
Österreich gliedert sich in die alpine und die kontinentale biogeografische Region. Nach eigenen Angaben befinden sich in der alpinen Region lediglich 18 % der Arten der FFH-Richtlinie in einem günstigen Erhaltungszustand, in der kontinentalen Region sind dies sogar nur 13 % [21].
Noch schlechter steht es um die Lebensräume in der kontinentalen biogeografischen Region Österreichs: hier konnte nur mehr für 3 % der Lebensraumtypen von europaweiter Bedeutung ein günstiger Erhaltungszustand angegeben werden [21].
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 07. September 2004 in der Rechtssache C-127/02 entschieden, „dass die Pflicht eines Mitgliedstaats, alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, eine durch Artikel 249 Absatz 3 EG und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht ist. Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“.
Wenn die Verpflichtung besteht, einen günstigen Erhaltungszustand für alle Lebensräume und Arten, die in der Richtlinie normiert sind, zu erreichen und der Erhaltungszustand in Österreich tatsächlich nur noch bei wenigen Habitaten und Arten günstig ist, dann kann kein Projekt, das zu weiteren Verschlechterungen führt, bewilligt werden. Der Gerichtshof hat längst festgestellt, dass es die „zwingende Pflicht“ eines jeden EU-Mitgliedsstaats ist, alle Maßnahmen zur Zielerreichung – nämlich die Sicherung der Artenvielfalt durch Habitat- und Artenschutz, Bewahrung oder Herstellung eines günstigen Erhaltungszustands [22] sowie die Pflege und ökologisch richtige Gestaltung der Vogellebensräume in und außerhalb von Schutzgebieten sowie die Wiederherstellung und Neuschaffung von Lebensstätten – zu treffen.
[1] | Statistik Austria (2016): Kraftfahrzeugbestand in Österreich bis 31. Dezember 2015, 14 S. |
[2] | Statistik Austria (2015): Demographisches Jahrbuch 2014, 122 S. |
[3] | Geoland.at (2016): GIS-Daten zu Österreich. |
[4] | Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (2012): Gesamtverkehrsplan für Österreich, Zahlen zur Verkehrsleistung in Österreich, Dezember 2012, 4 S. |
[5] | Umweltbundesamt (2016): Artikel „Verkehr und Siedlungen bedrohen die Artenvielfalt“, 4 S. |
[6] | Die Landesfläche Österreichs umfasst 83.878,99 km² [Statistik Austria 2015]. |
[7] | Der Dauersiedlungsraum umfasst den für Landwirtschaft, Siedlung und Verkehrsanlagen verfügbaren Raum. Der Dauersiedlungsraum setzt sich aus dem aktuell besiedelten und dem theoretisch besiedelbaren Raum zusammen und umfasst in Österreich 32.583,67 km² [Statistik Austria 2015]. |
[8] | Eine Population ist eine verbundene Gruppe von Individuen einer Pflanzen- oder Tierart, die eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden und zur gleichen Zeit in einem Areal zu finden sind. |
[9] | DULLINGER, S., ESSL, F., RABITSCH, W., ERB, K.-H., GINGRICH, S., HABERL, H., HÜLBER, K., JAROŠIK, V., KRAUSMANN, F., KÜHN, I., PERGL, J., PYŠEK, P. & HULME, P. E. (2013): Europe’s other debt crisis caused by the long legacy of future extinctions, in PNAS, Band 110, 30. April 2013, S. 7342-7347. |
[10] | ESSL, F., DULLINGER, S., RABITSCH, W., HULME, P. E., PYŠEK, P., WILSON, J. R. U., RICHARDSON, D. M. (2015), Historical legacies accumulate to shape future biodiversity in an era of rapid global change, in: Diversity and Distributions, Band 21, Mai 2015, S. 534-547. |
[11] | Beispielsweise im Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity). |
[12] | Beispielsweise in der Vogelschutzrichtlinie (2009/147/EG, zuvor 79/409/EWG) und der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (92/43/EWG). |
[13] | Beispielsweise im österreichischen Forstgesetz sowie in den Naturschutz- und Landschaftsschutzgesetzen und in den Artenschutzverordnungen der Bundesländer. |
[14] | Europäische Kommission (2015): Repräsentative Umfrage zum Thema Biodiversität („Attitudes of Europeans towards biodiversity“), Ergebnisse für Österreich, Juni/Oktober 2015, 4 S. |
[15] | Siehe Artikel 1 Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG). |
[16] | Siehe Artikel 2 Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG). |
[17] | Siehe Artikel 3 Abs. 1 Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG). |
[18] | Siehe Artikel 3 Abs. 2 Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG). |
[19] | Siehe dritten Erwägungsgrund der FFH-Richtlinie (92/43/EWG), veröffentlicht im Amtsblatt Nr. L 206 vom 22. Juli 1992. |
[20] | Siehe Artikel 2 FFH-Richtlinie (92/43/EWG). |
[21] | Umweltbundesamt (2013): Österreichischer Bericht gemäß Artikel 17 FFH-Richtlinie, Berichtszeitraum 2007–2012, Kurzfassung, im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt- und Wasserwirtschaft für die österreichischen Bundesländer, Dezember 2013, 31 S. |
[22] | Der „günstige Erhaltungszustand“ ist in der FFH-Richtlinie in Artikel 1 lit. e (Lebensräume) und lit. i (Arten) normiert. |